Alexandra Stan ist unweigerlich mit Sommerhits wie Mr. Saxobeat, Lemonade oder I Did It, Mama verbunden – Ohrwürmer, die sich in unser kollektives musikalisches Gedächtnis eingebrannt haben. Lange Zeit war die rumänische Sängerin ein Synonym für tanzbaren Elektropop, der nicht nur am Ballermann, sondern in ganz Europa rauf und runter lief. Mit ihrem sechsten Album, Energia ta, wagt Stan jedoch einen radikalen Schnitt.
Ähnlich wie ihre Kollegin Inna entscheidet sich Alexandra Stan, das sexy Tanzimage abzulegen. Stattdessen präsentiert sie ein Album, das sich mit Trennungen, Herzschmerz und Selbstfindung auseinandersetzt. Die Sammlung von zehn Titeln, komplett auf Rumänisch aufgenommen, zeigt in nur knapp 27 Minuten einen reiferen und introspektiveren Ton.
Es ist ein mutiger Schritt für Stan, die sich der Erwartungen ihrer Dance-Track-liebenden Fanbase bewusst ist. Auf Instagram zeigt sie sich entsprechend nervös, aber auch euphorisch. Eine künstlerische Weiterentwicklung, besonders ein so immenser Genrewechsel, ist stets eine Herausforderung. Doch die bisherige Resonanz auf Energia ta stimmt optimistisch – sowohl Fans als auch Kollegen aus der rumänischen Musikszene reagieren überwiegend positiv.
Energia ta bleibt im Kern ein Pop-Album, doch Contemporary R&B und Alt-Pop spielen nun eine zentrale Rolle. Die Vorab-Singles Înapoi (deutsch: „Zurück“) und Ocean gaben bereits einen Vorgeschmack auf Stans neue Richtung. Während Înapoi mit seiner R&B/Soul-Produktion etwas generisch wirkt, überzeugt Ocean mit atmosphärischen elektronischen Beats und Stans beruhigendem Gesang – ein klares Highlight, das ihre künstlerische Entwicklung unterstreicht.
Werfen wir einen Blick auf die Tracklist, auf der man trotz ihrer Kürze einiges zu verdauen hat.
Das Album beginnt mit Strânge-mă în brațe (deutsch: „Halte mich in deinen Armen“), einer gefühlvollen R&B-Ballade, bei der der rumänische Pop-Sänger Bastien unterstützt. Stan eröffnet das Album mit einem romantischen, ruhigen Ton, der sofort zeigt, dass sie eine neue Richtung eingeschlagen hat. Der Song entfaltet seine volle Wirkung erst nach mehrmaligem Hören, wenn man sich an Stans in sich gekehrteren Stil gewöhnt hat.
Der zweite Track, Tu al meu și eu a ta (deutsch: „Du gehörst mir und ich gehöre dir“), behält die ruhige Atmosphäre bei, ist aber etwas dynamischer als sein Vorgänger. Der eingängige Refrain bleibt schnell im Kopf hängen und zeigt, dass Stan auch mit zurückhaltenden Tönen überzeugen kann.
Mit Telefonu‘, cheile și cardu‘ (deutsch: „Telefon, Schlüssel und Karte“) liefert Stan das erste echte Highlight des Albums. Ein Alt-Pop-Juwel, das mit simplen Drums und einer eindringlichen Gesangseinlage im Refrain eine wütende Breakup-Atmosphäre erzeugt. Hier beweist Stan, dass sie in der Lage ist, andere Emotionen als Friede, Freude, Eierkuchen in Musik zu übersetzen.
Der Titeltrack bleibt dem ruhigeren Ton treu, fesselt aber durch einen repetitiven, eingängigen Refrain. Stans Stimme schwebt über einer minimalistischen Produktion und lässt den Hörer tief in ihre Gefühlswelt eintauchen. Cum poți (deutsch: „Wie du kannst“) beschleunigt das Tempo leicht, mit einem dynamischeren Beat und harmonischen Gesangsschichten, die zeigen, wie Stan ihre Dance-Pop-Wurzeln subtil in ihren neuen Sound integriert.
Auf Loop trifft man auf das zweite Feature des Albums – IDK, ein aufstrebendes 19-jähriges Rap-Phänomen aus Rumänien. Die beiden Künstler vereinen sich auf einem entspannten Trap-Beat zu einem gedankenverloreneren Track. Eine unerwartete, aber willkommene Kollaboration.
Die Bonus-Tracks Bine cu puțin rău (deutsch: „Gut mit ein wenig Bösem“) und Băieții (deutsch: „Die Jungs“) gehören zu den überraschenden Höhepunkten der Platte. Auf Bine cu puțin rău greift Stan auf ihre früheren tropischen Klänge zurück, während Băieții das Album mit eingängigem R&B-Sound abschließt. Warum diese beiden Tracks nur als Bonus geführt werden, bleibt ein Rätsel, denn sie zählen zu den stärksten Momenten des Albums.
Und ehe man sich versieht, ist die Platte bereits vorbei.
Begleitet wird Energia ta von minimalistischen, beeindruckenden Visuals, fotografiert von Dimitri Caceaune und David Gal. In schlichten, aber effektiven Bildern sehen wir Stan in weißer Unterwäsche, wie sie eine Romanze mit einem Engel (dargestellt vom Model Stepan Kalmyk) durchlebt. Diese Bilder unterstreichen perfekt die emotionale Tiefe des Albums.
Alexandra Stan hat mit Energia ta ein Wagnis eingegangen – und gewonnen. Sie hat ihre Disco-Klamotten (mit denen sie in Japan übrigens moderate Erfolge feierte) gegen weiße Unterwäsche und einen reiferen R&B-Sound getauscht. Dieser abrupte Stilwechsel mag überraschen, doch Stan meistert ihn mit Bravour.
Mit diesem kurzen, aber eindrucksvollen Album beweist die rumänische Pop-Sängerin ihre Wandelbarkeit. Energia ta ist ihr bisher kohärentestes und beständigstes Werk. Obwohl die erste Single nicht vollständig überzeugen mag, ist der Rest des Albums durchweg stark. Natürlich bleibt Raum für tiefere musikalische Experimente in den gewählten Genres, doch für einen ersten Versuch ist es ein beeindruckender Schritt.
Alexandra Stan zeigt hier, dass sie in der Lage ist, sich neu zu erfinden, ohne ihre künstlerische Identität zu verlieren. Energia ta ist ein mutiger Schritt in eine vielversprechende neue Ära ihrer Karriere, und es wird spannend sein zu sehen, wohin dieser Weg sie noch führen wird.
Folgt Alexandra Stan hier bei Instagram.
Highlights: Telefonu‘, cheile și cardu‘, Cum poți, Ocean, Bine cu puțin rău
Für Fans von: Rumänischen Dance-Queens, die nun melancholische Töne anschlagen
Alexandra Stan ist in der European Discoveries-Playlist als eines der Highlights der Woche vertreten. Hier streamen.