// VORWORT
Man kennt’s: Manchmal neigen wir dazu, Sänger*innen in eine bestimmte Genre-Schublade zu stecken – vor allem am Anfang ihrer Karriere. Aber bei wandelbaren Sängerinnen wie Lady Gaga, Beyoncé oder Miley Cyrus erwarten wir fast, dass sie mit jedem Album etwas Neues ausprobieren – und das ist auch gut so. Künstlerinnen, die sich trauen, aus ihrer Komfortzone auszubrechen, verdienen Respekt. Also, traut euch ruhig! Warum auch nicht? Du singst Pop und willst jetzt Metal machen? Tu es! Du bist tief im Jazz verwurzelt und hast plötzlich Lust auf Hyperpop? Nur zu!
Aber genug von der Theorie – wie sieht’s in der Praxis aus? 2022 habe ich Vitesse X mit ihrem Debütalbum Us Ephemeral entdeckt. Ihre Musik läuft bei mir hin und wieder, doch ein wirklich tiefer Deep Dive in ihre Diskografie ist bisher ausgeblieben. In gewisser Weise erlebe ich also This Infinite, ihr neues Album, unvoreingenommen – und das ist manchmal die beste Ausgangslage.
// VITESSE X
Aber wer ist Vitesse X überhaupt? Sie beschreibt sich selbst als „mysteriöse Produzentin“ aus New York, die mit ätherischen Klängen und fesselnden Gesangsmelodien verzaubert. Ihr Debütalbum Us Ephemeral erschien 2022 bei 100% Electronica, dem Label von George Clanton. Mit This Infinite, das sie über ihr eigenes Label Music Website veröffentlicht, wagt sie einen Imagewandel. Das Album, so sagt sie, ist eine „Übung im Anti-Perfektionismus“ – eine Art musikalische Reinigung, die sie als „somatische Befreiung“ bezeichnet. Klingt schon mal vielversprechend, oder?
Vorab muss ich das Cover loben – ich habe euch ja schon in meinem letzten Review erzählt, dass bei mir die Augen mithören. Fotografiert von Chris Burden, der auch Mitbegründer von Music Website ist, zeigt es Vitesse X in einem spacigen, silbernen Partyoutfit vor Windkraftanlagen auf einer saftig grünen Wiese. Die Farben springen einem förmlich ins Gesicht und machen das Cover zu einem echten Blickfang – fast so, als wäre es der eigentliche Grund, warum ich das Album überhaupt hören wollte.
Spoiler: Die aktuelle Platte unterscheidet sich komplett von ihrem Debüt – das habe ich schon im Vorfeld herausgefunden. Während Us Ephemeral noch eine atmosphärische Mischung aus Progressive Breaks, Vocal Trance und Drum and Bass bot, schlägt sie mit This Infinite neue Dream-Pop-Pfade ein.
// THIS INIFNITE - REVIEW
Mit dem Opener Eternal wird man sanft in die frische Welt von Vitesse X hineingezogen – kein plötzlicher Sprung ins kalte Wasser, sondern ein allmähliches Eintauchen in tiefere, schimmernde Klangströme. Der Track, der bereits als Single veröffentlicht wurde (mit einem ebenfalls großartigen Cover), bewahrt die verträumten Synthesizer ihres Debüts, während er uns leise, fast schüchtern, in fremde, aber verheißungsvolle musikalische Gewässer führt. Meine Wasser-Metaphern bleiben – und sie passen.
Wie ein Fluss, der irgendwo in den friedlichen Bergen entspringt und sich langsam zu einem reißenden Strom entwickelt, so plätschert auch das Album voran. Mit jedem Song fügen sich mehr verträumte, psychedelische und futuristische Elemente hinzu, die Vitesse X auf ihrer musikalischen Reise begleiten.
Die nächsten beiden Tracks, Spill und der Titeltrack This Infinite, bewegen sich immer tiefer in Richtung Indietronica und Dream-Pop, während die charakteristische Vitesse X-Atmosphäre erhalten bleibt. Bei Bliss Beat angekommen, sind wir dann vollständig in einer entspannten, fast halluzinogenen Klangwelt.
Die New Yorkerin mit einem Herz für die 90er-Rave-Ära webt in ihren Tracks eine dichte Mischung aus klirrenden Gitarrenriffs, hypnotischen Basslines und treibenden Schlagzeugmustern. Songs wie Spill, Bliss Beat und das verführerisch-transzendente Realize katapultieren uns direkt in den Kosmos des britischen Baggy-Sounds – eine Reise, die nie den Boden unter den Füßen verliert, aber in schwebende, alternative Sphären abdriftet.
Während die Sonne langsam über Berlin sinkt, scheint Vitesse X den perfekten Soundtrack für diesen Moment komponiert zu haben. Die Songs, die auf ihrem Debüt schon zum Fantasieren eingeladen haben, sind nun gereift, haben an Tiefe gewonnen – und es fühlt sich an, als wäre sie endgültig angekommen, in ihrer Musik und in ihrem künstlerischen Selbstverständnis.
Kein Wunder, dass das Genre Dream-Pop heißt: Man verliert sich förmlich in Tagträumen, und auf diesem Album verschmelzen Dream und Pop wie zwei perfekt aufeinander abgestimmte Puzzleteile. Aus dem reißenden Fluss wird allmählich ein verzauberter Bach, der sich leise, aber unaufhaltsam durch einen dichten Wald schlängelt. Während ich das hier schreibe, scheinen die sanften Synths von Realize mein Gehirn zu massieren – der Track fühlt sich an wie ein Balsam für die Seele. Zu kitschig? Vielleicht.
Das letzte Mal, dass mich ein Album aus diesem Genre so in den Bann gezogen hat, war vor zwei Jahren mit Giving the World Away von Hatchie. Umso schöner, dass Vitesse X, eine Künstlerin, die ich 2024 fast aus den Augen verloren hatte, sich nahtlos in diese Liga einreiht.
Mit way i luv habe ich zum ersten Mal das Gefühl, dass etwas fehlt – der Funke springt nicht direkt über. Vielleicht ein Mysterium, das ich erst in zwei Tagen lösen werde, denn ich kenne mich: Die Underdogs auf einem Album haben oft den längsten Atem und schleichen sich heimlich in meine Favoritenliste.
Apropos Favoriten: Careless ist der einzige Song, den ich vorab gehört und direkt in meine Playlist aufgenommen habe – und das aus gutem Grund. Ein Dream-Pop-Lied wie aus dem Bilderbuch, der mit seiner fließenden Klangerzählung überzeugt und gleichzeitig herausfordert und fesselt.
Ein interessanter Fakt: Produzent Jack Tatum war an der Platte beteiligt, der auch an zwei meiner Lieblingsalben mitgewirkt hat: Jubilee von Japanese Breakfast und A Touch of the Beat Gets You Up on Your Feet Gets You Out and Then Into the Sun von Aly & AJ. Auch online hört man bereits die Stimmen, dass This Infinite ihr Debütalbum bei weitem übertrifft – und dem kann ich nur zustimmen.
Das einzige Feature auf der Platte ist Get In Girls mit Pearly Drops, einem finnischen Synthpop-Duo. Der Song fügt sich quietschbunt in das Gesamtwerk ein, auch wenn er durch seine tanzbare Produktion etwas aus der träumerischen Atmosphäre heraussticht. Vielleicht hätte er am Ende des Albums besser gepasst – oder als eigenständige Single.
Mit In Finding kehrt Vitesse X zurück in die Welt der Tagträume – das fast komplett instrumentale Stück klingt wie eine warme Umarmung, ein Gefühl von Geborgenheit. Es ist, als hätte sie die Fähigkeit, Musik wie Balsam über deine Seele zu gießen. Und ja, ich weiß – das hört sich wieder zu kitschig an, aber irgendwie kann ich gar nicht anders, als in genau diese süßen Klischeefloskeln abzurutschen.
Auch auf End Of Forever verzichtet Vitesse X größtenteils auf Gesang und lässt stattdessen stimmungsvolle Spoken-Word-Passagen einfließen. Vor kurzem bin ich über den Begriff „Sci-Fi-Pop“ gestolpert, und ich muss sagen: Das beschreibt diesen Track (und die zweite Hälfte des Albums) perfekt. Man könnte glatt meinen, End Of Forever sei der Soundtrack für eine intergalaktische Reise oder einen Klartraum, der irgendwo zwischen den Sternen spielt.
Something In The Air beendet die Odyssee mit sphärischen Synths, schwebenden Shoegaze-Gitarren und futuristischen Drum-and-Bass-Beats, die dich sanft in eine andere Dimension tragen. Man wünscht sich fast, dass die Platte nie verstummt. In Gedanken treibe ich mittlerweile schwerelos durch das All – hinter mir die leuchtende Rainbow Road aus Mario Kart, vor mir ein gigantisches, funkelndes Raumschiff. This Infinite ist wie ein musikalischer Katapult, der mich mit voller Wucht aus dem Alltag geschossen hat.
Ich war nicht der Typ, der in seiner Heizdecke eingekuschelt war, während meine zwei Katzen es sich auf dem Kratzbaum gemütlich gemacht haben. Nein, ich war irgendwo ganz anders. Lustig zu sehen, wie sich meine Metaphern von einem Fluss zu einem magischen Bach und schließlich ins Weltall entwickelt haben.
// FAZIT
This Infinite zeigt scheinbar nicht nur eine stilistische, sondern auch eine tiefgreifende innere Wandlung von Vitesse X. Es ist, als hätte sie die Hülle ihres früheren Ichs abgelegt, um uns eine kraftvolle Sammlung von Dream-Pop-Songs zu präsentieren, die gleichermaßen melancholisch und hoffnungsvoll klingen. In jeder Melodie schwingen Einflüsse von diversen Genres mit – ein Klangteppich, der uns nicht nur zum Träumen, sondern auch zum Nachdenken anregt. Vitesse X hat den Mut, ihre musikalische Komfortzone hinter sich zu lassen, und schenkt uns ein Album, das sowohl fesselnd als auch zutiefst authentisch ist.
Am Ende steht die Erkenntnis: Alles fügt sich zu einem Ganzen zusammen – das Alte, das Neue, die Sehnsucht und die Freude. This Infinite nimmt uns mit auf einen Tagtraum, in dem alles erlaubt ist und nichts festgeschrieben scheint.
Highlights: Realize, Careless, Something In The Air
Für Fans von: Hatchie, George Clanton, Caroline Loveglow
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